Der Erzgebirgskreis als ländliche Region zählt zu den strukturschwachen Gebieten im Freistaat Sachsen. Hier wirkt sich der medizinische Fachkräftemangel besonders negativ aus. Die demografische Entwicklung durch die zunehmende Überalterung der Bevölkerung stellt eine zusätzliche Herausforderung dar. Mit ihrer modernen Landarztpraxis wollen Lucie Armbrecht und Dr. med. Ulf Bellmann die Versorgung sicherstellen und gleichzeitig attraktive Arbeitsbedingungen für junge Ärztinnen und Ärzte schaffen. Wieviel Herzblut im Projekt steckt, erzählen sie uns hier.
Innovative Landarztpraxis mit Zukunftscharakter im Erzgebirgskreis
Herr Dr. Bellmann, wie hat sich die hausärztliche Situation in den letzten Jahren im Landkreis verändert?
Regelmäßig schließen Hausarztpraxen in unserer Region, ohne nachbesetzt zu werden. Die offenen Sitze nehmen stetig zu, die verbliebenen Praxen sind überfüllt, teilweise werden Aufnahmestopps verhängt, viele Patienten stehen ohne hausärztliche Versorgung da.
Frau Armbrecht, was war der ausschlaggebende Impuls, ein derartiges Projekt, neben der Patientenversorgung, anzugehen?
Die zunehmende Arbeitsverdichtung und das Erreichen der eigenen Belastungsgrenze verbunden mit der fehlenden Aussicht auf Besserung der Versorgungssituation gaben 2020 den Anlass, unsere Kräfte zu bündeln und eine Praxisstruktur zu schaffen, mit der man den aktuellen und zukünftigen Anforderungen gewachsen ist.
Was hat Ihnen am meisten schlaflose Nächte bei der Umsetzung verursacht?
[Dr. Ulf Bellmann] Die schlaflosen Nächte hatte ich eher vorher mit der Einzelpraxis. Mit dem Willen zur Veränderung unserer Praxisstruktur lagen uns eigentlich keine großen Brocken im Weg. Im Gegenteil: In der Hochzeit der Pandemie konnten wir sofort die Vorteile einer Gemeinschaftspraxis an zwei Standorten erleben. Natürlich gab und gibt es Herausforderungen, die kräftezehrend sind. So waren die Planung und der Umzug in die neuen Räume oder auch die technische Synchronisation beider Standorte große Aufgaben.
Beschreiben Sie doch bitte mal in einigen Sätzen Ihre neue Praxis…
[Lucie Armbrecht] Wir sind eine hausärztliche Gemeinschaftspraxis mit zwei Standorten im ländlichen Raum im Erzgebirge. Die Praxen befinden sich 10 km von einander entfernt. Neben uns beiden Praxisinhabern arbeiten aktuell zwei angestellte Fachärztinnen im Team, die bereits während ihrer Weiterbildungszeit bei uns waren. Eine weitere junge Fachärztin befindet sich derzeit in Elternzeit. Außerdem haben wir aktuell noch bis Ende 2023 eine Weiterbildungsassistentin in Anstellung sowie eine erfahrene Kollegin im Ruhestand, die stundenweise noch tätig ist.
Worin liegt der Vorteil in einer derartigen Praxisstruktur und was macht Ihr Konzept für junge Ärzte oder Ärztinnen in Weiterbildung so attraktiv?
[Dr. Ulf Bellmann] Aus meiner Sicht ist der große Vorteil die Möglichkeit zur Teamarbeit, denn wir Mediziner sind von Grund auf Teamplayer. Die Arbeit als Einzelkämpfer allein in der Praxis halte ich für nicht mehr zeitgemäß. Außerdem ist der Schritt in die Selbständigkeit heutzutage mit hohen Hürden und Risiken verbunden, die die jungen Kollegen und Kolleginnen nicht sofort nach Erlangen des Facharzttitels eingehen wollen. Eine Anstellung bringt die notwendige soziale Sicherheit, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit und Fokussierung auf die Medizin.
Insbesondere für junge Kolleginnen mit Kindern haben wir familienkompatible Arbeitsbedingungen und -strukturen geschaffen, die eine Einzelpraxis so nicht bieten kann. Auch der flexible Einsatz des ärztlichen und nichtärztlichen Personals in beiden Praxen bei Krankheit, Weiterbildung oder Urlaub ist ein großer Vorteil.
Wieviele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zählen aktuell zum Team und wie ist das Arbeitsklima?
[Lucie Armbrecht] Aktuell unterstützen uns elf Arzthelferinnen und MFA, eine NÄPA, eine Diabetesassistentin, zwei Bürokräfte und zwei Azubis. Wir pflegen einen freundlichen unkomplizierten Umgang mit flacher Hierarchie. Trotz der räumlichen Trennung sind beide Praxisteams mittlerweile recht freundschaftlich verbunden. Regelmäßige teambildende Maßnahmen fördern das gemeinschaftliche Miteinander.
Sie sind als Ausbildungspraxis aktiv und Mitbegründer des Weiterbildungsverbundes Allgemeinmedizin in unserer Region. Sehen Sie mit derartigen Strukturen eine Chance, junge Ärztinnen und Ärzte für das Fach Allgemeinmedizin und die Region zu gewinnen?
[Dr. Ulf Bellmann] Eine Hauptaufgabe unseres Konzeptes ist es, bereits frühzeitig, optimalerweise schon im Studium, die jungen Kolleginnen und Kollegen für unsere Region und unsere Fachrichtung zu begeistern. Wir bieten ihnen dafür optimale Bedingungen, um ihre Praktika, PJ-Abschnitte oder Weiterbildungszeiten bei uns absolvieren zu können. Damit lassen sich persönliche Bindungen schaffen, die hoffentlich auch in Zukunft dafür sorgen werden, dass unsere Nachwuchsärztinnen und -ärzte perspektivisch unserer Region erhalten bleiben und nicht abwandern. Dass das funktionieren kann, zeigen unsere drei jungen Ärztinnen. Letztlich profitieren dann alle Seiten davon.
Mit welchen Argumenten würden Sie Kolleginnen und Kollegen ermutigen, ebenso so eine Landarztpraxis ins Leben zu rufen?
[Lucie Armbrecht] Im Rahmen der zunehmenden Belastungen ist ein kollegiales Miteinander unter einem Dach von Vorteil. Von der Arbeitsteilung und der gewonnenen Flexibilität profitieren alle Praxismitarbeiter. Es entwickeln sich dadurch Spielräume, die Kapazitäten für neue Projekte freisetzen können.
Was müsste aus Ihrer Sicht der Staat, der Gesetzgeber, die Kommune tun, um die Versorgungssituation zu verbessern?
[Lucie Armbrecht] Es ist wichtig, die Rahmenbedingungen und die Attraktivität der hausärztlichen Tätigkeit auf dem Lande auf allen Ebenen zu fördern, um dem Ungleichgewicht der ärztlichen Verteilung zwischen den Metropolen und dem ländlichen Raum entgegen zu wirken. Auch die Wertschätzung innerhalb der Gesellschaft, insbesondere auch für unser MFAs, ist von entscheidender Bedeutung, Hausarztpraxen stabil zu besetzen und die Versorgungssituation wieder zu verbessern.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
[Dr. Ulf Bellmann] Wir wünschen uns, dass wir auch zukünftig engagierte junge MedizinerInnen auf dem Weg zum Facharzt begleiten dürfen und sie mit guten Argumenten dann in unserer Region halten können. Die Rahmenbedingungen dafür müssen aber auch unsere ärztlichen Institutionen schaffen. Außerdem ist eine bessere Finanzierung der Praxen notwendig, um unsere MFAs, ohne die keine Praxis läuft, nicht in andere medizinische Bereiche zu verlieren und angemessen wertschätzen zu können.
[Das Interview führte Dr. med. Dirk Müller, Vorsitzender der Kreisärztekammer ERZgebirgskreis und Vorstandsmitglied der Sächsischen Landesärztekammer]